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Frau Prof. Dr. Gunda Schneider-Flume lehrte von 1999 bis 2006 als Professorin für Systematische Theologie an unserer Fakultät.

Nachruf auf Gunda Schneider-Flume (19.5.1941–26.2.2024)

Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Leipzig trauert um Gunda Schneider-Flume, die am 26. Februar 2024 im Alter von 82 Jahren verstorben ist. Ihre akademische Karriere führte die in Berlin geborene württembergische Pfarrerin und Theologin über Professuren in Heidelberg und Jena 1999 schließlich nach Leipzig, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 2006 lehrte. In ihrer 1971 publizierten Tübinger Dissertation über „Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918–1933“ ordnete Schneider-Flume Hirschs Position vor der nationalsozialistischen Machtergreifung in das Spektrum des konservativen Protestantismus der deutschen Zwischenkriegszeit ein, wobei sie sich des Dezisionismus-Begriffs bediente. Einem ganz anderen Gegenstand, der sich allerdings zu ihrem „Lebensthema“ entwickeln sollte, widmete sich Schneider-Flume in ihrer 1985 im Druck erschienenen Tübinger Habilitationsschrift. Darin hat sie, unter dem Titel „Die Identität des Sünders“, eine christlich-anthropologische Auseinandersetzung mit dem Identitäts-Konzept des deutsch-amerikanischen Psychologen Erik H. Erikson vollzogen und dabei Eriksons Begriff der Ich-Identität als einen Ganzheits-Imperativ kritisiert; der hier angelegten Reduktion des Menschen auf das, was er selbst aus sich macht, hat Schneider-Flume die Verwobenheit individueller Lebensgeschichten mit der „Geschichte Gottes“ entgegengesetzt.

Damit ist ein Thema angesprochen, das Schneider-Flume auf ihren späteren Denkwegen immer wieder aufgegriffen hat. Greifbar wird dies etwa an dem Büchlein „Glaubenserfahrung in den Psalmen“ (1998). Erneut im Rückgriff auf Einsichten der Entwicklungspsychologie, aber auch im kritischen Rekurs auf Kant sowie klassische und zeitgenössische Positionen der Religionskritik, hat Schneider-Flume die Glaubenszeugnisse der Psalmen als Ausdruck der Erfahrung interpretiert, dass die je eigene Lebensgeschichte nicht autonom gestaltet ist, sondern in der Geschichte Gottes gründet. In gegenwartsdiagnostischer Hinsicht hat sie aus diesem Zugang zunächst eine Kritik an der „Tyrannei des gelingenden Lebens“ abgeleitet, prominent in der Monographie „Leben ist kostbar“ (2002). Weiterhin hat sie, namentlich im viel rezipierten „Grundkurs Dogmatik“ (2004), gezeigt, dass und wie die Verwurzelung der christlichen Existenz in der erwähnten Erfahrung auch das theologisch-dogmatische Denken prägen kann. Dabei ist insbesondere von Bedeutung, dass Schneider-Flume aus ihrer streng biblisch orientierten theologischen Perspektive heraus die Bedeutung des Erzählens für die gegenwärtige Aneignung der dogmatischen Begriffstradition hervorgehoben hat. Als den zentralen Gegenstand dieses Erzählens hat sie immer wieder die Barmherzigkeit Gottes namhaft gemacht, ein Begriff, zu dessen gegenwärtiger theologischer Wiedergewinnung sie unter dem Titel „Realismus der Barmherzigkeit“ (2012) einen Beitrag geleistet hat. Maßgebliche Aufsätze, in denen das theologische Programm des „Grundkurs Dogmatik“ in verschiedener Weise ausgemünzt, punktuell vertieft und erweitert sowie auf die religionssoziologische Situation in Ostdeutschland bezogen wurde, sind in dem in der Leipziger Evangelischen Verlagsanstalt (EVA) erschienenen Sammelband „Glaube in einer säkularen Welt“ (2006) enthalten. Die speziell anthropologische Pointe ihres Zugriffs hat Schneider-Flume sowohl in der Monographie „Alter – Schicksal oder Gnade?“ (2008) aufgezeigt als auch in einem in der EVA-Reihe „Theologie für die Gemeinde“ angesiedelten Büchlein unter dem Titel „Wenig niedriger als Gott?“ (2013) für kirchlich interessierte Nicht-Theologen fruchtbar gemacht.

Insgesamt ging es Schneider-Flume in ihren durchweg gut verständlichen, zugleich aber stets präzise und dicht formulierten theologischen Reflexionen darum, die spezifisch christliche Erfahrung der Verdanktheit des Lebens in Anlehnung an biblische Texte in eine Kritik an der Reduktion humaner Existenz auf Produktivität und Leistung zu überführen. Damit hat sie einen wichtigen Aspekt der reformatorischen Theologie für die Gegenwart fruchtbar gemacht.

Die Theologische Fakultät Leipzig, die ihr auch nach der Emeritierung am Herzen lag und für deren kollegiales Miteinander und interdisziplinäre Vernetzung sie sich durch Einladung zu „Suppentöpfen“ und theologischen Runden engagierte, gedenkt ihrer in Trauer und mit Dankbarkeit. Möge sie schauen, was sie geglaubt hat.

 

Für das Institut für Systematische Theologie: Prof. Dr. Roderich Barth & Prof. Dr. Rochus Leonhardt

Für das Dekanat: Prof. Dr. Alexander Deeg & Prof. Dr. Jens Herzer

im Namen aller Kolleginnen und Kollegen.