Nachricht vom

Was ein Bild von Sebastião Salgado uns in der gegenwärtigen Situation sagen kann: Worte zur Weihnacht vom Dekan der Theologischen Fakultät Professor Dr. Dr. Andreas Schüle.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, liebe Freunde der Theologischen Fakultät,


einen Weihnachtsbrief zu schreiben, ist dieses Jahr gar nicht so einfach. Dass es tausend Gründe gibt, 2020 in dunklen Farben zu zeichnen, liegt auf der Hand. Was dieses Jahr mit uns – persönlich und als Gesellschaft – gemacht hat und noch machen wird, lässt sich noch gar nicht abschätzen. Zu Anfang des Jahres, nach dem ersten Lockdown, gab es immer noch die Hoffnung, dass die Pandemie eine Episode bleiben und man danach wieder ins ‚normale‘ Leben zurückkehren würde. Von einer ‚Rückkehr zur Normalität‘ ist, wenn ich es richtig beobachte, heute – am Jahresende – kaum noch die Rede. Für viele Menschen haben sich die Lebensumstände übers Jahr so verändert, dass es eben kein Zurück mehr geben wird und der Weg nach vorne noch nicht absehbar ist. Für manche sind die Einschnitte hart, unmittelbar spürbar und, ja, existenziell bedrohlich. Für andere ist die Pandemie ein eher ‚subkutanes‘ Erlebnis, weil man spürt, wie einem die eigene Art zu leben entgleitet, ohne zu wissen, was
an deren Stelle tritt.

Ich frage mich, wie wir in Zukunft miteinander umgehen werden, wenn es dann keine Hygieneregeln mehr gibt. Werden wir uns wieder die Hände schütteln, uns wieder umarmen? Oder haben wir das nunmehr etablierte 11. Gebot „Halte Abstand!“ doch so weit internalisiert, dass wir uns auch in Zukunft daran halten werden? Vielleicht werden wir aber auch neu und sensibler über zwischenmenschliche Nähe und Distanz nachdenken. Vielleicht werden wir aus der Pandemie mit geschärften Sinnen dafür hervorgehen, was wichtig ist, was wir – materiell und geistlich – wirklich zum Leben brauchen und was verzichtbar oder schlicht überflüssig ist. An der Universität haben wir, um etwas eher Triviales zu erwähnen, vielleicht gelernt, dass nicht jeder Termin unverzichtbar ist und dass man nicht für jede Konferenz um die halbe Welt fliegen muss. Die verordnete Entschleunigung mag den ein oder anderen
daran erinnert haben, dass Wissenschaft und Forschung mehr mit Brillanz in der Tiefe als mit oberflächlicher Geschäftigkeit zu tun haben.

Ein zutiefst ambivalentes Jahr 2020 geht zu Ende und ein unabsehbares Jahr 2021 liegt vor uns. Das unter diesem Link abgebildete Foto hat in dieser Situation für mich etwas Sinnbildliches. Es stammt von dem Fotografen Sebastião Salgado, der dieses Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Salgado hat über Jahrzehnte in Krisen- und Kriegsgebieten gelebt und dabei ein fotografisches Werk geschaffen, das mehr als Worte
die Frage stellt, ob sich der Preis der ‚Zivilisation‘, wie wir sie kennen, am Ende rechtfertigen lässt. Salgado fotografierte Arbeiter in den Goldminen Brasiliens, in Stahlwerken der USA, die brennenden Ölfelder von Kuwait nach dem 1. Golfkrieg, Flüchtlingstrecks in Ruanda und im Sudan. Seine Bilder sind Portraits von Leid und Leidensfähigkeit, von einem unbändigen Willen zu leben und dessen Scheitern. Es sind Bilder, die eine unheimliche Ästhetik und Würde ausstrahlen, obwohl die Verhältnisse, in denen sie entstanden, für den Betrachter grauenhaft und würdelos erscheinen müssen.

Das Foto stammt aus dem Jahr 1985 und zeigt eine Tuareg-Frau aus Mali. Sie ist erblindet. Ein Parasit und der Wüstensand haben ihr das Augenlicht genommen. Gleichwohl scheint es so, als könne sie weit in die Zukunft sehen. Und in der Tat erzählte sie Salgado nicht nur von ihrem Schicksal, sondern auch von ihren Hoffnungen für sich selbst und für ihren Stamm. Dieses Foto, das durch einen glücklichen Zufall zu mir kam, habe ich mir neben dem Schreibtisch aufgehängt. Die Frau aus Mali erinnert mich an die Cassandra der griechischen Mythologie – eine Seherin mit einem tragischen Schicksal. Es ist dieser visionäre, trübe Blick und die illusionslose Hoffnung, die mich am Ende dieses Jahres ins Nachdenken bringen. Vielleicht wäre das ein ehrlicher Ausgangspunkt für heute. So sehr diese Frau gezeichnet ist,so wenig wirkt sie gebrochen. Sie weiß nichts von der Zukunft, die vor ihr liegt, und ist doch nicht ahnungslos.

Mit diesem Bild neben oder vor sich kann man Theologie treiben – und das vor allem sollten wir auch im kommenden Jahr tun, nachdem wir uns dieses Jahr mehr mit uns selbst beschäftigen mussten. Wenn nicht in diesen undurchsichtigen Zeiten, wann dann braucht es theologische Arbeit! Auch für die Theologie sollte klar sein, dass gutbürgerlicher Traditionspflege in diesem Jahr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wer sich in solchen Zeiten als Theologin und Theologe nicht weiterentwickelt, wird es vermutlich nie tun. Das gilt nicht nur für die akademische Theologie, sondern auch für die kirchliche Praxis. Wenn man lernen kann, wie wenig trivial Gottesdienste und Seelsorge sind, wenn sie denn bei den Menschen ankommen, dann jetzt.

Es sind schwierige, aber gewiss keine schlechten Zeiten für Theologie und Kirche. Als Fakultät haben wir dieses Jahr einen neuen Ort für unsere Arbeit erhalten – das Gebäude in der Beethovenstraße 25. Umzüge setzen Kreativität und Ideen frei, und das ist bei uns derzeit spürbar der Fall. Nutzen wir diese Energie, um zu überlegen, nicht nur welche Bilder nun an welchen Wänden hängen sollen, sondern wie wir hier lehren und lernen, denken, forschen und, ja, auch miteinander beten wollen.

Eine gesegnete Weihnachtszeit und ein gutes neues Jahr
wünscht Ihnen

Ihr
Andreas Schüle
Dekan der Theologischen Fakultät